R. Bloch u.a. (Hrsg.): Jüdische Lebens- und Denkwelten

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Titel
Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000


Herausgeber
Bloch, René; Jacques, Picard
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
URL
von
Helena Kanyar Becker

Der poetische Titel stammt aus der Korrespondenz der Dichterin Else Lasker-Schüler mit dem Juristen Emil Raas, der sie 1933 nach einer Lesung durch «die wunderalte Stadt» Bern begleitete. In der Erinnerung der Emigrantin, welche die Schweiz verlassen musste, blieb Bern ein Inbegriff der friedlichen Schönheit.

René Bloch und Jacques Picard wählten die «meteorologische» Metapher als Symbol für die freundlich hellen und die bedrohlich dunklen Wolken, die das jüdische Leben in Bern begleiteten. Die Herausgeber gliederten den Sammelband mit Beiträgen von 25 Autorinnen und Autoren in fünf nicht strikt chronologische Teile, wobei jeder Teil von einer umfangreichen Darstellung eingeleitet wird.

Rainer Christoph Schwinges verfasste die anschauliche Einführung zur jüdischen Geschichte in Bern bis 1800. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts ist dort eine Gemeinde bezeugt, deren Mitglieder in der Geldwirtschaft beschäftigt waren. Die Judengasse (heute Kochergasse) und das Judenhaus (Gemeindehaus) befanden sich in der Nähe des Bundeshauses, der jüdische Friedhof lag ausserhalb der Stadtmauer. Als 1293/94 zwei Gemeindemitglieder des Ritualmordes an einem Knaben beschuldigt wurden, beschlagnahmte die Stadt die jüdischen Häuser und das Friedhofsgelände. Die zweite Verfolgungswelle fand während der Pest 1348 statt, als Juden angeblich die Brunnen vergifteten. Im Mai 1427 wurden die jüdischen Kreditgeber für vier Jahrhunderte aus Bern verbannt. Geduldet wurden nur jüdische Ärzte, mit Vorbehalt auch Marktfahrer und Pferdehändler. Obwohl die Juden seit dem Spätmittelalter aus Bern ausgewiesen waren, studierten die nicht gerade philosemitisch gesinnten reformierten Theologen hebräische Schriften. Olivia Franz-Klauser untersuchte die dreissig Handschriften, die in der Burgerbibliothek aufbewahrt werden.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der bürgerlichen Emanzipation der jüdischen Bevölkerung, die von der Französischen Revolution 1789 in die Wege geleitet wurde. Karin Huser verfolgt den antisemitisch gefärbten Widerstand der Schweizer Behörden gegen die jüdische Gleichberechtigung und die unzähligen Peripetien bis zur Teilrevision der Bundesverfassung vom Januar 1866, die auf Druck des Auslands durchgeführt werden musste. Bei einer Volksabstimmung wurden das Niederlassungs- und Handelsrecht angenommen, obwohl sich die Berner vehement dagegen gewehrt hatten.

Die erste jüdische Kultusgemeinde in Bern gründeten 1848 die Zuzügler aus dem Elsass. Die Söhne dieser Pferde- und Tuchhändler gehörten während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründergeneration der traditionellen Firmen. Angela Bhend erörtert die demographische Entwicklung und den wirtschaftlichen Aufstieg der Berner jüdischen Gesellschaft. Sie schildert die Geschichte der etablierten Familien Bloch, Brunschwig, Weil, Schwob sowie Loeb, die übrigens aus Süddeutschland eingewandert war.

Während der liberalen Epoche wurde 1855 auch die erste Synagoge erbaut, deren Geschichte Ron Epstein beschreibt. Ein Ausdruck des latenten Antisemitismus war das Schächtverbot von 1893, das bis heute unverändert gilt.

Der dritte Teil, Geisteswelten, ist den jüdischen Intellektuellen aus dem deutschen Sprachraum und aus den osteuropäischen Regionen gewidmet, die an der Berner Universität studierten und lehrten. Die Russinnen und Russen bildeten eine sogenannte Kolonie, wo orthodoxe, sozialdemokratische und zionistische Gruppierungen lebten, die Vladimir Medem in seinen autobiografischen Erinnerungen porträtiert. Sandrine Mayoraz fasst die Tätigkeit des sozialistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes zusammen, dessen Zentrale sich von 1898 bis 1917 in Bern befand.

In Bern doktorierten Walter Benjamin und Gershom Scholem, es lehrte dort die erste Professorin Europas, die russische Philosophin Anna Tumarkin (1875– 1951). Monika Kneubühler liefert Porträts der bekannten und unbekannten — Gelehrten. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die in Bern wirkten, gehört Albert Einstein, der dort die Grundlagen seiner Relativitätstheorie entwickelte (1901–1908), wie Hans-Rudolf Ott belegt.

Franziska Rogger zählt jüdische Lehrende und Lernende an der Universität Bern zwischen 1848 und 1945 auf. Ein besonderes Kapitel erarbeitete Shifra Kuperman, die über jiddische Schriftsteller forscht, die Bern unter anderem als «das Alpenparadies» mythologisierten. Zu den deutschen Autoren und Autorinnen, die Bern thematisierten, gehört Else Lasker-Schüler, die in ihren Briefen eine emotionale Mythologie entwickelte, wie Stephanie Leuenberger nachweist.

Den vierten Teil, die Epoche zwischen 1914 und 1945, charakterisiert Patrick Kury in seiner umfassenden Einleitung als das Zeitalter der Katastrophen. Die politischen, sozialen und ökonomischen Divergenzen, der wachsende Nationalismus, die Bekämpfung der sogenannten Überfremdung, die restriktive Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik führten unter anderem zum Rückgang der jüdischen Bevölkerung. Kury berichtet auch über den Prozess gegen die antisemitische Hetzschrift Protokolle der Weisen von Zion, den die Israelitische Kultusgemeinde Bern und der Israelitische Gemeindebund von 1933 bis 1937 mit Teilerfolg geführt haben. Über den Ankläger Georges Brunschwig, der acht Jahre lang die Berner jüdische Gemeinde und 27 Jahre den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund präsidierte sowie der Rechtsvertreter der Israelitischen Botschaft in Bern war, verfasste Hannah Einhaus ein einprägsames Porträt.

Den letzten Teil, von der Gründung des Staates Israel 1948 und dem Hundert- Jahre-Jubiläum der Berner Kultusgemeinde bis zur Gegenwart, leitet Daniel Gerson ein. Er analysiert die Modernisierungstendenzen und die neu definierte Rolle der Frauen sowie die Problematik der immer häufiger geschlossenen Mischehen. In einem weiteren Beitrag referiert Gerson über den Bau des neuen Gemeindezentrums 1971, die Säkularisierung und Kulturarbeit, aber auch über den diffizilen Weg zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung der Berner jüdischen Gemeinde am 1. September 1997.

René Bloch beschreibt eingehend die Geschichte der Judaistik an der Universität Bern seit den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung des Instituts für Judaistik und der zugehörigen ausserordentlichen Professur an der Theologischen Fakultät 2008.

In einem Kurzbeitrag liefert Peter Abelin die Übersicht der jüdischen Bildungsinitiativen seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Er betont die wesentliche Rolle von Rolf Bloch und Jacques Picard und besonders diejenige von Celia Zwillenberg, die zwischen 1999 und 2009 unter der Bezeichnung «JGB-College» erfolgreiche Vortragsreihen und Studienreisen organisierte.

Die Tätigkeit der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft und die Rolle des interreligiösen Dialogs in Bern thematisiert Richard Staub.

Die Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte in Stadt und Region Bern ist ein hervorragendes Beispiel für eine populärwissenschaftliche Publikation, die ein breites Publikum erreichen kann. Die Herausgeber ersparen der Leserin und dem Leser mühsame Lektüren – sämtliche Beiträge sind flüssig geschrieben und leicht lesbar.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: René Bloch, Jacques Picard (Hg.), Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000, Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 471-473.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 471-473.

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